Ein ganz gewöhnliches Meisterschaftstraining…
Ich komme aus der Kälte in die warme Halle. Alles redet durcheinander, Musik läuft, Küsschen hier, Winken dort. Ich lasse meine Tasche auf den Boden und mich auf den Stuhl fallen. Alle haben einen langen Tag hinter sich: Uni, Schule, Arbeit… Ich hatte heute schon 10 Patienten im Alter zwischen 4 und 95 Jahren. Eigentlich bin ich ganz schön kaputt, stelle mir kurz einen Abend auf der Couch vor… Der Blick in meine Tasche zeigt eine Trainignhose, ein Top, ein Shirt, Schuhe, eine Wasserflasche, einen Stapel CDs und eine Zettelsammlung mit vielen namentlich beschrifteteten Kreuzen in verschiedensten, symmetrischen Figuren – die Aufstellungen für die diesjährige Jazz-Meisterschaft.
Es folgt eine kurze Absprache mit Aki. Da SIE diejenige ist, die bei Meisterschaften sowohl die Wertende also auch zu bewertende Position kennt, ist sie in unserem Coach-Duo wohl der „Kopf“. Sie achtet darauf, dass genügend Technikelemente in der Choreografie getanzt werden, dass die Formationen variantenreich sind, Musikschnitt und Flächenausnutzung dem Wettkampf-Regelwerk entsprechen. ICH bin diejenige, die wohl „Herz“, „Seele“ und gern auch mal persönliche Gemütszustände in die Choreografien hineinlegt. Ich bin die, mit dem größeren, tänzerischen Erfahrungsschatz und die, die versucht, diese Gefühle und Interpretationen mit manchmal viel zu blümeranter Sprache den Deluxe-Tänzerinnen zu vermitteln und dabei hin und wieder das eine oder andere „Grinsen“ kassiert. Egal! Wir ergänzen uns großartig!
Es gibt heute wieder viel zu tun: Gestern war die Generalprobe für die Deutsche Meisterschaft. Eine ausführliche Videoanalyse des Durchgangs war meine Sonntagabend-Gestaltung; der weiße Zettel mit Anregungen und Korrekturen füllt sich schnell, vor allem bei mir selbst und dem, was ich tanze, bin ich besonders kritisch. ABER, es hat sich auch sehr viel getan: Die Mädels bewegen sich nach dem verstärkten Jazz- und Modern-Training viel geschmeidiger, die Füße sind gestreckter, Drehungen sicherer. In der Ausstrahlung sehe ich viel mehr Facetten und Persönlichkeit von jeder Einzelnen, denn wir haben Ausdrucks-Training gemacht, uns Personen überlegt, die wir uns imaginär ins Publikum setzen u.v.m.
Wir starten mit dem Training. Es liegt die erste Nervosität in der Luft. Nach Warm-Up und Dehnung werden die einzelnen Passagen der Meisterschafts-Choero noch mal durchgezählt, Auf- und Abgänge routiniert. Einige der Tänzerinnen haben sich selbständig das Video angeschaut und geben ebenfalls Hinweise und Tipps für den absoluten Feinschliff. Das „Korrigieren“ ist in dieser Gruppe und zu diesem Zeitpunkt immer „ein Meckern auf sehr hohem Niveau“ – und alle wissen das. Es ist eine angespannte, intensive, aber wunderbare Arbeit. Alle sind so verschieden, die Eine steckt mitten in den Abschlussprüfungen und sieht das Training als aktive Lernpause, die Andere hat sich gerade frisch von ihrem Freund getrennt und kommt endlich mal auf andere Gedanken, wieder eine andere Tänzerin ist nach einer längeren Verletzungs-Zwangspause froh, endlich wieder eine Meisterschaft tanzen zu dürfen.
Zum letzten Mal wird das komplette Programm mit voller Power getanzt, danach fallen alle schwer atmend auf den Parkettboden – total fertig, triefend nass, aber glücklich, denn alle spüren: Dieser Durchgang war wirklich gut!!! Wir freuen uns darauf, die Arbeit der letzten Wochen und Monate endlich dem Publikum und der Jury zu präsentieren.
Nach dem Training sitze ich wieder auf meinem Stuhl vom Anfang und schaue in meine Tasche. Aber es gibt einen Unterschied: Der Stress vom Tag ist wie weggepustet. Gut, dass ich den Abend nicht auf der Couch verbracht habe. Es ist wie immer bei einer Meisterschaft: DAVOR frage ich mich, warum ich mir das antue, aber DANACH ist es einfach nur schön!